Braucht es Freiheit für ein Freiheitsgefühl?

Du steigst in einen Flieger, der dich in ein fernes Land trägt. Du kaufst dein erstes Auto. Du schwimmst nackt im See. Du flitzt in Windeseile den Pulverhang hinunter. Du bist alleine in einer fremden Stadt oder geniesst den Sonnenuntergang am Meer. Unabhängig davon, ob wir diese Momente selbst erlebt haben oder nicht: Wir wissen, welche Gefühle sie hervorrufen. Man fühlt sich selbstbestimmt, emanzipiert, ungebunden, unabhängig, entfesselt, vogelfrei. Für dieses Gefühl der Freiheit sind Menschen seit über Generationen bereit, viel zu investieren oder dafür aufzugeben. Man denke nur an die Strapazen des Cowboys im wilden Westen oder die Qualen der protestierenden Frauen im Iran. Die Freiheit hat Menschen zur Staatengründung animiert oder war jedenfalls deren plausible Begründung zur neuen Machtverteilung. Egal, ob Thomas Jefferson in den USA, Simón Bolívar in Lateinamerika oder die Jakobiner während der Französischen Revolution – alle motivierten, umgarnten sie das Volk mit dem Schutz der individuellen Freiheit, die der Sicherheit eines Staates bedarf.

Freiheit ist furchtbar überzeugend, und ich möchte sie auf keinen Fall hergeben, doch bin ich mir nicht sicher, von welcher Freiheit wir hier sprechen. Als wir losreisten, freuten wir uns auf die Freiheit einer terminlosen Agenda, einer unbestimmten Reiseroute und eines Kontos mit ausreichend Geld für ungelebte Abenteuer. Mit Staatsgründung hat dies wenig zu tun, denn die Länder sind definiert und deren Spielregeln auch – manchmal brauchen wir ein Visum und müssen uns längere Kleider anziehen oder auf Ruchbrot verzichten, aber ansonsten sind wir vollkommen frei. Wir bereisen fremde Länder und Kulturen und fühlen uns dabei maximal frei. Damit sind wir nicht alleine: Zu uns gesellen sich freiheitsliebende Abenteurer, das Weite suchende Urlauber*innen und Auswander*innen, die ihre Herkunft als engstirnig empfinden. Da sind wir also und suchen die Freiheit in Asien.
In China konnten wir nicht sorglos alle Provinzen bereisen, weil der chinesische Staat ethnische Gruppen diskriminiert. So ist beispielsweise nicht klar, ob wir ohne zusätzliche Visa nach Xinjang (hier leben mehrheitlich Uigur*innen) gelangt wären und nach Tibet hätten sie uns sicher nicht gelassen. Dasselbe gilt für Laos, weil der chinesische Staat (Lao-China Railway) nicht in jede Ecke des Landes eine Zugstrecke gebaut hat und die laotischen Strassen teilweise nicht passierbar sind. Wer hoch in den Norden will, muss Wetterglück haben, weil der Regen die Strassen flutet. In Laos gibt es keine komplette Überwachung der Bevölkerung, diese scheitert bereits am regelmässigen Stromausfall und den fehlenden Apps. Dafür wird die leistbare Überwachung an Museumseingängen oder bei den Sicherheitskontrollen übertrieben umgesetzt. Wie gesagt, man besteigt dieselben Züge mit denselben Sicherheitsvorkehrungen in China wie in Laos, aber nur in Laos nahm man uns das geliebte Schweizer Sackmesser weg. In China gibt es viel Überwachung und einen starken Staat, doch die Regeln werden gerne gebogen, und alle schauen weg. In Laos sind die Preise tief, und man kann sich als Touristin fast alles kaufen, was feilgeboten wird, doch es ist kaum etwas im Angebot. Die begehrten Annehmlichkeiten wie leckeres Essen, saubere Unterkünfte und sichere Transporte stammen alle von ausländischen Firmen und sind rar gesät. Zwar zählt Laos gemäss den Statistiken des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Zeitraum von 2000 bis 2024 zu den 20 wachstumsstärksten Volkswirtschaften der Welt, laut Prognose wird das Entwicklungsland jedoch im Jahr 2025 gemessen am BIP pro Kopf zu den 50 ärmsten Ländern der Welt gehören. Ein Grund für die gedämpften Zukunftsaussichten ist die hohe öffentliche Verschuldung. Sie hat 2023 die Marke von 100 Prozent der Wirtschaftsleistung überschritten. In China hingegen kann man nicht annähernd alles kaufen, weil der schiere Luxus einen erschlägt (und das Bankkonto komplett leert). Doch das Erschwingliche hat ein unfassbar gutes Preis-Leistungsverhältnis und so gönnten wir uns anstelle eines 20-minütigen Fussmarschs jeweils ein Luxustaxi.

Wir fühlten uns in China freier als in Laos, obwohl die Freiheit zugunsten der Sicherheit stark eingeschränkt ist. In Laos waren wir limitiert an Ressourcen und Bewegungsraum, und ein Meer mit Sonnenuntergang war nicht in Sicht. Dieses fehlende Freiheitsgefühl hat mit der Freiheit, die von Staaten beworben und verteidigt wird, nichts zu tun. Wir hatten Handlungsfreiheit, Autonomie und einen weltoffenen Geist, doch es roch nicht nach Freiheit in Laos. Es fühlte sich limitierend, beengend und kaum selbstgewählt an. In China konnte man die Freiheit auch nicht riechen, aber die Grenzen waren weniger beengt gezogen, und die Glaswand des Aquariums war so makellos geputzt, dass wir sie nie sahen.






Kommentare

  1. Ganz, ganz herzlichen Dank für diese Eindrücke aus China und Laos über Freiheit, die man nicht riechen kann...
    Das ist sehr eindrücklich
    Herzlichst MaRu

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