China first: Wie sich China im Verhältnis zur Welt versteht
Alipay, DiDi Travel, WeChat, Baidu Maps, Ctrip und wie sie alle heissen. Wer kürzlich einmal wieder in China war, kennt sie alle und anerkennt demütig, dass man sich diesen nützlichen Apps niemals entziehen kann. Ebenso wenig wie man dem gratis servierten, perfekt zubereiteten Tee oder den schlechtriechenden Hocktoiletten entkommt und neuerdings eine unfassbare Ungeduld entwickelte, weil bestelltes Essen, egal zu welcher Tageszeit, innerhalb von fünf Minuten auf dem Tisch stehen muss. Die DiDi-Fahrer (das ist die Taxi-App und ja, deren Chauffeure sind alle männlich) bringen einen für zu wenig Geld überall hin – nach chinesischem Verständnis ist dies schliesslich ihre Aufgabe. Es bedeutet auch, dass man zu jeder Tags- und Nachtzeit fünf (einzelne) Dosen Tonicwasser vor seine Wohnungstür liefern lassen kann oder Begehrtes per Drohne bestellt. Aus Europa kommend wirkt dies so fortschrittlich wie faszinierend, und wenn man dann noch die (fast) ausschliesslich mit Elektrizität betriebenen Autos in die Waagschale wirft, bleibt einem der Mund offen stehen. Ich weiss nicht, wie wir angesichts dieser erdrückenden Tatsachen an unserem Eurozentrismus festhalten können. Woher kommt die Vorstellung, wir seien das Zentrum der Welt? Das Zentrum liegt offenbar in China. Genauer genommen in Peking, denn danach richten sich alle fünf Zeitzonen Chinas – wie praktisch.
Vielleicht
hilft hier das chinesische Tianxia-Weltkonzept weiter. Der deutsche Sinologe
(Chinawissenschaftler) Thomas Zimmer
erklärt in Chinas Auffassung von der „Welt“ und ihrer Ordnung, woher das
oft rezipierte Konzept stammt. Der Begriff «tianxia» wurde im China der 1990er
vermehrt verwendet, als es versuchte, Anschluss an die Welt zu finden und dabei
das reiche, eigene geistige Eigentum zu berücksichtigen. Tianxia wird oft in
einem Atemzug mit der Schicksalsgemeinschaft der Menschheit, damit ist die
gesamte Weltgesellschaft gemeint, genannt. Durch Tianxia soll das chinesische
Narrativ positiv erzählt werden – Sinozentrismus statt Eurozentrismus. Der
Sinologe Zimmer führt das Konzept weiter aus, indem er den chinesischen
Philosophen Tingyang Zhao aus Alles unter dem Himmel zitiert: «Die
moderne politische Philosophie habe bislang keine brauchbare politische Theorie
zustande gebracht.» Zhaos Lösung dafür ist das Tianxia-Weltkonzept: Inklusion
durch Akzeptanz von Vielfalt und durch Betonung gegenseitiger Abhängigkeit.
Dafür bedient er sich bei Strukturen der traditionellen konfuzianischen
Familie: einer stabilen und auf Vertrauen basierende Koexistenz. So weit, so
gut. Zhao spricht hier bewusst von einem Weltkonzept, keinem Konzept für China.
Er macht einen Gegenentwurf zur gescheiterten politischen Philosophie (des
Westens). Positiv formuliert, könnte die Koexistenz in der Welt einen Dialog
zwischen China und dem Rest der Welt beinhalten. Kritische Stimmen aus China
selbst warnen jedoch vor einer Zwangsbeglückung der Welt durch China: Es gibt
offenbar einen Willen zu einer neuen (Tianxia)-Weltordnung, um eine Globalität
zu erschaffen. Zimmer geht noch weiter und spricht von einem «China first»,
auch wenn dies in China niemand so sagen würde. Der Sinozentrismus der
Gegenwart ist moderner, dialogbereiter und nicht so plump wie Trump.
Eine Welt, in der wir «alle unter einem Himmel» leben. Eine Welt, in der China zum Dialog lädt und sogleich eine Lösung bereitstellt: E-Autos, WeChat, Rund-um-die-Uhr-Service und fantastisches Essen. In dieser Welt haben wir dann alle Alipay, WeChat und Co. Passend dazu fragte uns Simone aus Italien, der seit 22 Jahren in China lebt: «Habt ihr in Europa noch immer kein WeChat?» und bedauerte es, als wir mit «nein» antworteten. Das Erschreckende an der Geschichte ist nicht das Tianxia-Weltkonzept oder der neue Sinozentrismus; vielmehr ist es, wie leicht es uns fällt, darin unseren Platz zu finden: Wir können alles bestellen, was das Herz begehrt, fühlen uns stets sicher und vermissen die politische Mitsprache (noch) nicht.
Literatur
Zimmer, Thomas.
Chinas Auffassung von der „Welt“ und ihrer Ordnung. In: Hu,
Chunchun, Triebel, Odila und Zimmer, Thomas (Hg). Im
Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdverstehen Globale
Herausforderungen und deutsch-chinesische Kulturbeziehungen. Springer 2023. S.
29-44.
Zhao,
Tingyang. Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der
Weltordnung. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Suhrkamp 2020.
Ganz herzlichen Dank für den sehr spannenden Beitrag und die beeindruckenden Fotos.
AntwortenLöschenHerzlich
MaRu
Herzlichen Dank für das Teilen Eure Eindrücke aus China, die wunderschöne Sugestionen erwecken und an Euch nähern... F.N.
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